Der Artikel erschien ursprünglich am 14.07.2021. Durch das Update am Ende des Textes kam es zu einer Übertragung in diesem Blog.
Seit Jahren diskutiert die Öffentlichkeit darüber, ob Polizist.innen vor Gericht anders behandelt werden. Hintergrund sind immer wieder eingestellte Verfahren, Gegenanzeigen und aufgeflogene Absprachen zwischen Polizist:innen, um sich selbst zu schützen.
So auch bei einem SEK-Einsatz am 10. September 2019 in Treuenbrietzen (Brandenburg). Der Fotojournalist Julian Stähle wollte einen Polizeieinsatz dokumentieren und wurde dabei Opfer von Polizeigewalt.
Polizeigewalt auf Video festgehalten
Nach Angaben von Julian Stähle behinderte ein Polizist ihn beim Filmen aus dem von der Polizei zugewiesenen Bereich für Medienvertreter:innen. So habe er sich mehrfach vor der Kamera aufgebaut. Er beschloss daher, sich über den Beamten zu beschweren.
Durch ein von Herrn Stähle aufgenommenes Video ist folgender Dialog bekannt:
Stähle: “Ich hätte gerne Ihren Namen gehabt. Sie werden ja wohl wissen, wie ihr Name ist oder Ihre Dienstnummer.”
Der Polizist greift ihn an und wirft ihn zu Boden.
Stähle im fallen: “Hallo!”
Polizist: “Red ich nicht Deutsch oder was?"
Stähle auf dem Boden wieder: “Hallo!”
Polizist: “Schluss hier. Ich lass mich hier nicht beleidigen Kumpel!”
Stähle am würgen, da der Polizist ihn am Hals bearbeitet: “Samma, Hallo!”
Polizist: “Ich lass mich nicht beleidigen hier!”
Stähle: “Ich hab Sie doch nicht..”
Polizist: “Ich habe wat gesagt..”
Stähle: “Ich hab Sie doch nach Ihrem Namen gefragt! Spinnen Sie?”
Polizist: “Bis hier hin und nicht weiter!”
Stähle: “Spinnen Sie oder was?”
Der
Videoausschnitt
wurde von t-online hochgeladen.
Stähle erstattete noch vor Ort beim Dienstgruppenleiter Anzeige gegen den Polizisten.
Diese Anzeige wurde bereits nach wenigen Wochen eingestellt, da laut Staatsanwaltschaft Potsdam kein strafbares Verhalten zu ermitteln sei. Einige Wochen später bekam er Post von der Staatsanwaltschaft Potsdam. Stähle wurde vorgeworfen, Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte geleistet zu haben. Außerdem sollte er sich wegen versuchter Körperverletzung verantworten. Nun könnte man sagen, das oben genannte Video ist doch eindeutig. Ist es. Allerdings hielt Stähle und sein Anwalt nach eigenen Angaben dieses Video zurück, um eine objektive Ermittlung zu ermöglichen und Polizeiabsprachen zu verhindern.
Video entlarvt Polizisten der Falschaussage vor Gericht
Am 14. August 2020 kam es zur Verhandlung vor dem Amtsgericht Brandenburg/Havel, bei der Stähle sich für die vorgeworfenen Taten verantworten musste. Im Zeugenstand sagte der Prügelpolizist aus, dass der Journalist mit dem Kameraobjektiv ihn an der Schulter gestoßen habe und er von alleine zu Boden ging, nachdem er sich reflexartig zum Journalisten umdrehte. Ein zweiter Polizist stützte diese Aussage im Zeugenstand. Nach diesen Falschaussagen brachte Stähles Rechtsanwalt das Video als Beweismittel ein. Der gewalttätige Polizist blieb auch danach bei seiner Falschaussage und verhielt sich uneinsichtig. Er bestritt sogar, die im Hintergrund zu hörende Stimme zu sein.
Auch der zweite Polizist blieb bei seiner Falschaussage, brach allerdings wortwörtlich wenig später zusammen, als der Anwalt seine Befragung intensivierte und musste via Krankenwagen ins Krankenhaus gebracht werden. Stähle wurde freigesprochen. Dies verdankte er dem Video, da er ohne Video wohl schuldig gesprochen worden wäre.
Die Folgen
Julian Stähle war nach der Tat fünf Wochen arbeitsunfähig und litt auch noch danach an Albträumen.
Die betroffenen Beamten wurden nach der Berichterstattung in den Innendienst versetzt.
Die Staatsanwaltschaft Potsdam hat gegen beide Polizisten Ermittlungen geführt.
Gegen den gewalttätigen Polizisten wurde wegen Nötigung, Körperverletzung im Amt und Verfolgung Unschuldiger und falscher uneidlicher Aussage ermittelt. Gegen den anderen Beamten wurde wegen Verfolgung Unschuldiger, falscher uneidlicher Aussage und Strafvereitelung im Amt ermittelt. Weitere Ermittlungen gegen die am Einsatz beteiligten Polizist:innen wurden nicht geführt. Beide Ermittlungen wurden gemäß § 170 Abs. 2 StPO eingestellt, da die Ermittlungen keinen Anlass zur Erhebung der öffentlichen Klage gegeben hätten. Der Tatbestand der Nötigung wurde mit Zustimmung des zuständigen Gerichts, auch unter Berücksichtigung des vorangegangenen Verhaltens des Anzeigenerstatters, eingestellt.
Die Staatsanwaltschaft Potsdam dazu: “Es existierten Anhaltspunkte für eine erfolgte herabwürdigende Äußerung des Herrn Stähle gegenüber einem Polizeibeamten.” Eine Anzeige wegen Beleidigung hat der “betroffene” Polizist allerdings nicht gestellt.
Wie die Polizei Brandenburg am 13.07.2021 mitteilte, sind die Disziplinarverfahren gegen beide Polizisten aktuell noch ausgesetzt.
So heißt es von der Polizei: “Derzeit ist das Disziplinarverfahren noch ausgesetzt. Erst nach Ablauf der aktuell noch laufenden Beschwerdefrist wird die Einstellung des Strafverfahrens rechtskräftig. Im weiteren Verlauf wird die Strafakte beim zuständigen Gericht angefordert und das Disziplinarverfahren wieder aufgenommen.“
Julian Stähle zeigte sich überrascht darüber, wie die Staatsanwaltschaft entschieden hat. Ihm ist es wichtig, dass er sich nichts zu Schulden gekommen lassen hat. Er weiß ganz genau, nach welchen Regeln er Polizeieinsätze zu dokumentieren hat. Den Zusammenhalt der Behörde in dieser Situation findet er sehr erschreckend. Stähle glaubte fest daran, dass dieser Vorfall lückenlos aufgeklärt wird und auch die Staatsanwaltschaft daran ein Interesse hätte. Julian Stähle wird gegen die Entscheidung der Staatsanwaltschaft wahrscheinlich Beschwerde einlegen. Für ihn ist die Entscheidung absolut nicht nachvollziehbar.
Zum Nachhören gibt es die gesamte Aussage von Julian Stähle bei t-online.
Fazit
Der geschilderte Fall steht exemplarisch dafür, warum wir in Deutschland unabhängige Ermittlungsbehörden benötigen, um mögliche Straftaten von Polizist:innen aufzuklären, die nicht auf eine gute Zusammenarbeit mit der Polizei angewiesen sind.
Mir persönlich ist es unbegreiflich, warum die Ermittlungen gegen die beiden Polizisten eingestellt wurden, da diese Straftaten im erheblichen Umfang getätigt haben, welches auch dem Ansehen der Polizei als solches schaden.
Beide Polizisten hätten bei einer Verurteilung damit rechnen müssen, dass das Beamtenverhältnis gemäß §24 BeamtStG unmittelbar endet. Das Beamtenverhältnis endet u.a. automatisch, wenn es eine Freiheitsstrafe von mindestens 1 Jahr gibt. Allein § 344 StGB (Verfolgung Unschuldiger) hat eine Mindeststrafe von einem Jahr bis zu zehn Jahren, lediglich in minder schweren Fällen beträgt die Strafandrohung drei Monate bis fünf Jahre. Eine Freiheitsstrafe von mindestens einem Jahr wäre daher im Bereich des Möglichen gewesen, sofern sie für die erhobenen Tatvorwürfe vom Gericht verurteilt worden wären.
Besonders bei dem Haupttäter erscheint die Einstellung des Verfahrens vor dem Hintergrund der im Video dokumentierten Handlungen des Beamten fragwürdig, da insofern eine Körperverletzung im Amt mit einer Mindeststrafe von drei Monaten in Betracht gekommen wäre. Dies hätte durchaus vor Gericht untersucht werden können, vor allem wegen der Körperverletzung im Amt
Dieser Fall ist meines Erachtens ein Fußtritt für die Pressefreiheit in Deutschland und ein einziger Justiz- und Polizeiskandal.
Drei Jahre nach der Tat
In unserem Rechtssystem mahlen die Mühlen der Justiz bekanntlich sehr langsam.
Ein Jahr nach dem letzten Kontakt zur Staatsanwaltschaft Potsdam und der Polizei Brandenburg, war es daher wieder Zeit, den aktuellen Stand zu erfragen.
Die Staatsanwaltschaft Potsdam gab am 27.07.2022 folgende Auskunft:
Das Verfahren gegen einen der Beamten wegen falscher uneidlicher Aussage, Verfolgung Unschuldiger und Strafvereitelung im Amt ist gemäß § 170 Abs. 2 StPO eingestellt worden, weil ein hinreichender Tatverdacht nach dem Ergebnis der Ermittlungen nicht zu begründen war.
Gegen den weiteren Beamten ist das Verfahren wegen Körperverletzung im Amt, Verfolgung Unschuldiger und falscher uneidlicher Aussage ebenfalls gemäß § 170 Abs. 2 StPO eingestellt worden, da die durchgeführten Ermittlungen keinen genügenden Anlass zur Erhebung der öffentlichen Klage gegeben haben. Soweit eine Nötigung im Raum stand, ist das Verfahren mit Zustimmung des zuständigen Gerichts auch unter Berücksichtigung des vorangegangenen Verhaltens des Anzeigeerstatters gemäß § 153 Abs. 1 StPO eingestellt worden.
Da gegen die Einstellung des Verfahrens des hauptbeschuldigten Polizisten Beschwerde eingelegt wurde, ist dieses Verfahren auch drei Jahre danach immer noch nicht abgeschlossen. Die Akten zum Fall befinden sich aktuell bei der Generalstaatsanwaltschaft Brandenburg. Eine hohe Priorisierung scheint dieser Fall jedenfalls in der Justiz von Brandenburg nicht zu haben.
Wie die Polizei Brandenburg mitteilte, konnte das Disziplinarverfahren gegen den Haupttäter noch nicht abgeschlossen werden. So ist dieses noch immer ausgesetzt, weil im Strafverfahren noch nicht entschieden wurde.
Gegen den Polizisten, der vor Gericht bewusst gelogen hat, wurde das Disziplinarverfahren hingegen eingestellt.
Die Polizei Brandenburg dazu: "Das Disziplinarverfahren gegen einen Beamten (Anmerkung: Auf Nachfrage wurde bestätigt, dass es sich um den Polizisten handelte, der vor Gericht die Aussage gestützt hat) wurde am 26. Oktober 2021 nach § 33 Abs. 1 Nr. 1 des Landesdisziplinargesetzes (LDG) eingestellt, da sich der Verdacht eines Dienstvergehens unter Berücksichtigung der staatsanwaltschaftlichen Feststellungen nicht bestätigt hatte. Dem Beamten ließ es sich nicht nachweisen, dass er den Vorwürfen entsprechende Handlungen begangen hat."
Meines Erachtens ist dies ein absoluter Skandal, sollte man sich auf die Ehrlichkeit von Polizist:innen verlassen können.
In diesem Zusammenhang gibt es ein Sprichwort, was wir sicherlich alle kennen: Wer einmal lügt, den glaubt man nicht, auch wenn er dann die Wahrheit spricht.
Quellen
https://twitter.com/watch_union/status/1302990531744665603?s=20
Strafmaß Gespräche mit Jurist:innen
Eigene Anfragen bei Staatsanwaltschaft und Polizei (E-Mails liegen vor). Die Staatsanwaltschaft hat darum gebeten, ihre Antwort bildlich nicht wieder zu geben, da es sich hierbei um keine öffentliche Pressemitteilung handelt.
Austausch mit t-online