Russland - Hat das Land unerschöpfliche Einwohnerressourcen?

Russland - Hat das Land unerschöpfliche Einwohnerressourcen?

Seit nunmehr zweieinhalb Jahren dominieren apokalyptische Szenarien die Berichterstattung über den Ukraine-Krieg. Prognosen wie 'In drei Tagen ist die russische Armee in Kiew!' oder 'Der ukrainische Einmarsch in der Oblast Kursk ist eine Selbstmordmission!' prägten lange Zeit die öffentliche Diskussion. Die Wiederholung solcher martialischen Behauptungen ließ in mir zunehmend Zweifel an der objektiven Darstellung der Lage aufkommen.

 

Entspricht das medial gezeichnete Bild Russlands tatsächlich der Realität? Verfügt das Land über unerschöpfliche Ressourcen, um die enormen Verluste an Mensch und Material im Ukraine-Krieg zu kompensieren und gleichzeitig die Flucht junger Menschen ins Ausland aufzufangen? Um diese Fragen zu klären, habe ich mich eingehend mit öffentlich zugänglichen Informationen auseinandergesetzt.

 

Die vorliegende Ausführung beruht auf die Sichtung der mir verfügbarer Daten. Dabei bin ich mir bewusst, dass eine objektive Bewertung aufgrund der Komplexität des Konflikts und der eingeschränkten Informationslage in Russland herausfordernd ist. Zudem ist eine gewisse subjektive Prägung durch meine pro-ukrainische Haltung unvermeidlich.

Die folgenden Ausführungen basieren auf den öffentlich zugänglichen Daten, die trotz der genannten Einschränkungen die einzige verfügbare Grundlage für eine Betrachtung darstellen. Es gilt zu betonen, dass die Datenlage in autoritären Regimen wie Russland stets mit Vorsicht zu genießen ist.

Kennziffern Demografie, Arbeitslosenquote und Haushaltsausgaben nationale Sicherheit

Bevor ich auf die einzelnen Punkte genauer eingehe, möchte ich euch hier zunächst die Kennziffern der russischen Demografie auflisten.

 

Einwohner: 144,82 Millionen Menschen (2024)

Davon Frauen: 53,6% (2021)
Fertilitätsrate: 1,46 (2024)
Lebenserwartung bei der Geburt Männer: 67,26 Jahre (2024)
Durchschnittsalter der Bevölkerung: 39,87 (2024)

Arbeitslosenquote Juni 2024 15-72 Jahre: 2,4%

Haushaltsausgaben nationale Sicherheit und Sicherheitsorgane 2024: 38,6%

Einwohnerentwicklung von 1990-2023 und Prognosen bis 2050

Russland weist seit jeher eine geringe Bevölkerungsdichte auf. Trotz seiner enormen territorialen Ausdehnung übersteigt die Einwohnerzahl nicht einmal das Doppelte der deutschen Bevölkerung. Nach einem Höchststand von 148,98 Millionen im Jahr 1990 verzeichnete das Land bis 2010 einen Bevölkerungsrückgang. Zwar folgte eine leichte Erholung bis 2020, jedoch deuten aktuelle Prognosen auf einen erneuten, deutlichen Rückgang von 2,93 Millionen Einwohnern bis 2030 hin.

 

Diese Prognose ist mit großer Unsicherheit behaftet, da das weitere Vorgehen des Kremls in der Ukraine unklar ist. Eine erneute Mobilmachung könnte zu einer weiteren erheblichen Auswanderungswelle führen, wie bereits nach Beginn der zweiten Phase des Angriffskrieges und während der Teilmobilisierung im September 2022 beobachtet wurde. Schätzungen von  Pro Asyl zufolge haben seit Kriegsbeginn rund 250.000 Militärdienstpflichtige Russland verlassen. Die Konrad-Adenauer-Stiftung  berichtet, dass unter den Auswanderern ein hoher Anteil an Angehörigen der mittleren und oberen Mittelschicht sowie qualifizierten Fachkräften, darunter rund 100.000 IT-Spezialisten, zu finden ist. Alles in allem geht die Washington Post davon aus, dass im ersten Kriegsjahr zwischen 500.000 und 1 Millionen Russinnen und Russen das Land verlassen haben. 

Russland steht, ähnlich wie viele europäische Länder, vor einer erheblichen demografischen Herausforderung: Die Geburtenrate liegt bei lediglich 1,5 Kindern pro Frau und wird sich laut Prognosen kaum verändern. Gleichzeitig ist die Lebenserwartung deutlich niedriger als in westlichen Industrieländern, insbesondere bei Männern. So beträgt die durchschnittliche Lebenserwartung bei der Geburt in Russland nur 67,26 Jahre, während sie in Deutschland bei 78,6 Jahren liegt. Das steigende  Durchschnittsalter der Bevölkerung in Russland (Siehe Bild links) wird zu einer zunehmenden Belastung für die Wettbewerbsfähigkeit der russischen Wirtschaft beitragen.

 

Ein schrumpfender Arbeitskräftepool, steigende Ausgaben für das Gesundheits- und Rentensystem sowie eine alternde Gesellschaft belasten die staatlichen Haushalte. Der Krieg in der Ukraine verschärft diese Probleme zusätzlich, indem er die ohnehin schon fragile demografische Situation weiter destabilisiert.

Der Arbeitsmarkt und die Umstellung auf Kriegswirtschaft

Die demografischen Herausforderungen Russlands, wie die niedrige Geburtenrate und das steigende Durchschnittsalter, sind zwar bedeutsam, doch für den aktuellen Angriffskrieg gegen die Ukraine spielen andere Faktoren eine wesentlich größere Rolle. Insbesondere die Entwicklungen auf dem Arbeitsmarkt und die fortschreitende Umstellung auf eine Kriegswirtschaft haben direkte Auswirkungen auf die militärische Personalstärke.

 

Die jüngsten Arbeitsmarktdaten zeigen einen Rückgang der Arbeitslosenquote von 3,9% auf 2,4% innerhalb der letzten zwei Jahre. Dieser Wert bewegt sich am unteren Rand der als Vollbeschäftigung geltenden Spanne von 2% bis 4%. Bemerkenswert ist dabei, dass diese Statistik Personen im Alter von 15 bis 72 Jahren umfasst. Angesichts der altersbedingten Einschränkungen, insbesondere in höheren Altersgruppen, ist davon auszugehen, dass das tatsächlich verfügbare Humankapital für Wirtschaft und Militär geringer ist.

 

Der deutliche Rückgang der Arbeitslosenquote verdeutlicht den zunehmenden Wettbewerb um Arbeitskräfte zwischen Staat und Wirtschaft. Die russischen Behörden versuchen, durch attraktive finanzielle Anreize wie erhöhte Soldzahlungen für Vertragssoldaten und einmalige Anwerbeprämien, die oftmals das durchschnittliche Einkommen übertreffen, Personal für das Militär zu gewinnen. Diese Praxis zeigt, dass der Staat mit erheblichen Schwierigkeiten konfrontiert ist, genügend Freiwillige für den militärischen Dienst zu rekrutieren.

 

Der Politologe Wladislaw Inosemtsew fasst es folgendermaßen zusammen: "Man geht richtigerweise davon aus, dass es ein Krieg der Armen ist, der von den sehr Reichen geführt wird. Die ersteren brauchen immer noch Geld und die letzteren haben es nach wie vor." 

 

Die Frage, inwieweit Russland bereits eine Kriegswirtschaft etabliert hat, wird in der Fachwelt kontrovers diskutiert. Unbestritten ist jedoch, dass eine signifikante Umstellung stattgefunden hat. Seit Beginn des Angriffskriegs gegen die Ukraine sind rund eine halbe Million neue Arbeitsplätze in der Rüstungsindustrie entstanden. Der Anteil der Militärausgaben am russischen Haushalt ist auf 38,6% gestiegen. Das Wiener Institut für Internationale Wirtschaftsvergleiche prognostiziert einen baldigen wirtschaftlichen Wendepunkt für Russland, da der akute Arbeitskräftemangel und steigende Zinsen die wirtschaftliche Entwicklung bremsen. Die hohen Militärausgaben verschärfen diese Herausforderungen zusätzlich.

Fazit

Nach eingehender Betrachtung der oben aufgeführten Daten lässt sich die aktuelle Situation für Russland wie folgt zusammenfassen:

Obwohl Russland durch Migration potenziell Personalengpässe in Wirtschaft und Militär ausgleichen könnte, sinkt die Attraktivität des Landes kontinuierlich. Dies ist insbesondere auf die zunehmend negativen Erfahrungen von Migranten zurückzuführen, die oft unter falschen Voraussetzungen angeworben und in den Kriegseinsatz gezwungen werden. Auch die Interventionen anderer Staaten zur Verhinderung von Rekrutierungen unter ihren Staatsbürgern wirken sich negativ auf die Migrationsbereitschaft aus.

Die Umstellung auf eine Kriegswirtschaft könnte zwar kurzfristig zu einer Freisetzung von Arbeitskräften führen. Langfristig sind jedoch erhebliche ökonomische Belastungen zu erwarten. Sanktionen erzwingen eine verstärkte Eigenproduktion, während gleichzeitig hohe Transferleistungen für Kriegsopfer, Schäden an der Energieproduktion (siehe Ölraffinerien und Co), Steuerausfälle und eine aufgeblähte Rüstungsindustrie die finanziellen Ressourcen belasten. Die Möglichkeiten zum Ausgleich fehlender Importe durch eigene Produktion sind durch diese Faktoren eingeschränkt.

 

Zwar ist ein Abgesang auf die Kriegsfähigkeit Russlands meines Erachtens noch zu früh. Die mediale Darstellung Russlands als militärische Großmacht wird jedoch meines Erachtens zunehmend infrage gestellt. Angesichts der aktuellen Entwicklungen ist davon auszugehen, dass Russland vor erheblichen Herausforderungen steht. Ob und in welchem Maße sich dies unmittelbar auf die Frontlage auswirkt, bleibt abzuwarten. Indizien wie der Einsatz von Wehrpflichtigen und die andauernde ukrainische Präsenz in der Oblast Kursk deuten jedoch auf eine zunehmende Belastung des russischen Militärs hin.